„Ob sie verrückt waren, ist mir egal“

Ein Gespräch mit Jonas Mekas über Freundschaft in der Kunst und Kunst in der Freundschaft
by Florian Malzacher

In: Frankfurter Rundschau (9 OKT 2002).


Es gibt zwei Gründe für Ihr Hiersein: Die Fluxus-Ausstellung in Wiesbaden und die Frankfurter Buchmesse mit dem Länderschwerpunkt Litauen. Fangen wir mit Fluxus an, einer Bewegung, die Sie unter anderem in Ihren Filmen und in einem Buch dokumentiert, die Sie aber auch selbst mitgeprägt haben. Wie würden Sie definieren, was Fluxus ist?

Es gab mal eine solche Anfrage an zwanzig Fluxus-Teilnehmer. Und es gab darauf zwanzig völlig verschiedene Antworten. Aber für mich ist Fluxus: George Macunias. Weil er die zentrale Figur ist. Und wer Fluxus verstehen will, muss immer zu ihm zurückgehen.

Grundsätzlich hat Fluxus etwas damit zu tun, das Leben leicht zu nehmen, mit einem Lächeln, Humor, Zen. Auf der anderen Seite ist es ein bestimmtes Design, eine bestimmte Form.

Sie definieren Kunst immer sehr stark über Personen. Und haben berühmte Filme über ihre Freunde gemacht – Macunias, Warhol, Lennon… Ist Kunst eine Frage der Freundschaft?

Jede künstlerische Bewegung wird erzeugt von vier, fünf, höchstens zehn guten Freunden, die sie mit ihrer Haltung, ihren Ideen prägen. Freundschaft zwischen Künstlern ist sehr wichtig – George hat sich übrigens nie als Künstler gesehen. Er sagte, Fluxus ist eine Lebensweise. Darauf hat er bestanden.

Sie haben mal gesagt: „Alle meine Filme sind über das Leben“.

An einem gewissen Punkt ist es komplizierter. Mein Gebiet des Films ist sozusagen das Tagebuch: Ich filme mein Leben, meine Freunde, das Leben um mich herum. Aber ich filme nur wenige Momente am Tag, wie sollte das mein Leben repräsentieren können? Diese kleinen Fragmente, ein paar Sekunden am Tag.

Mein letzter Film, der auf der Documenta gezeigt wurde, deckt 25 Jahre ab. Wie sollte der mein Leben repräsentieren? Er ist Fiktion. Doch auf der anderen Seite, wenn ich drei Sekunden an einem Tag gefilmt habe, gab es ein großes Bedürfnis, diesen Moment zu filmen, er war wahrscheinlich sehr wichtig für mich – in dieser Hinsicht repräsentiert er mich dann. Nicht das Leben um mich herum, aber mich.

Und andersherum? Ist Ihr Leben selbst zu einem Kunstwerk geworden?

Hm, nein. Ich glaube nicht. Aber das ist eine interessante Frage, denn, wenn ich mir Georges Leben anschaue, reflektiert das sehr stark, was er in seiner Kunst tat. Er hat zum Beispiel nichts weggeschmissen, alles benutzt, privat und in der Kunst. Und nun schaue ich auf mich selbst: Wie kam ich auf diese Tagebuchform, warum schreibe ich keine Skripts und mache keine Spielfilme.

Anfangs wollte ich das tun, aber ich wurde in New York so schnell verwickelt in Dinge, von denen ich dachte, dass sie einfach getan werden müssten. Ich hatte Freunde, die etwas sagen wollten, aber es gab dafür kein Magazin, also mussten wir das anfangen. Dann hatten die experimentellen Filmemacher keine Plattform. Also musste ich die Filmmakers’ Cooperative gründen, damit die Filme verfügbar wurden. Ich musste die Filmmakers’ Cinémathèque aufbauen, damit ich die Filme meinen Freunden zeigen konnte, damit wir über sie streiten konnten. Später wurde die Präservierung wichtig, als die Filme begannen, in Stücke zu fallen – dann musste ich die Anthology Film Archives schaffen.

So gab es immer diese Notwendigkeiten, die alle Zeit in Anspruch nehmen. Meine eigenen Filme werden also in wenigen Momenten freier Zeit gemacht. Die Art wie jemand sein Leben lebt, bestimmt, welche Art von Kunst man macht, den Stil und die Inhalte.

Berühmt sind Sie für Ihr Engagement für den Film. Aber Sie schreiben auch…

… das ist eine andere Sache. Mit dem Schreiben von Gedichten habe ich sehr früh begonnen. Das ist etwas anderes, das ist mein anderes Leben.

Sie schreiben Ihre Gedichte auf Litauisch und Ihre Tagebücher auf Englisch.

Man kann Gedichte nicht in einer anderen Sprache schreiben als in der, die man als Kind gelernt hat.

In Litauen kennt man Sie vor allem als Lyriker und nicht als Filmemacher …

… ja, die halten mein Filmemachen für Zeitverschwendung. Und in Amerika kennt man mich fast überhaupt nicht als Lyriker, sondern nur als Filmemacher. Und nicht einmal das stimmt eigentlich. Dort kennt man mich vor allem als Organisator der Cinémathèque und des Archives. In Europa und Japan bin ich als Filmemacher bekannt.

Dass Sie nach New York kamen, war ein Zufall – aber rückblickend scheint es fast so, als hätten Sie dort landen müssen. Sie sind so sehr ein Teil der New Yorker Kunstszene, dass man sich diese ohne Sie gar nicht vorstellen kann. Sie kannten eigentlich alle wichtigen Künstler – oft waren sie ein wichtiges Bindeglied.

Ja, ich schaffte es, mit allen befreundet zu sein, obwohl viele von ihnen jahrelang nicht mehr miteinander gesprochen haben. Je größer sie als Künstler sind, desto verrückter sind sie oft. Aber für mich war ihre Kunst wichtig, ihre Filme, ihre Gedichte. Ob sie verrückt waren, ist mir egal, auch was sie über mich sagen. Oft habe ich sie erst zusammengebracht.

Velvet Underground, Lou Reed, probten bei mir in der Cinémathèque bevor sie in die Welt hinauszogen. Es kam also durch mich, dass Andy Warhol, der bei mir seine Filme zeigte, auf Velvet Underground traf. Und George Macunias hatte keinen Raum für seine Performances und so gab ich ihm die Cinémathèque. Und dann kamen Yoko Ono und John Lennon – so haben sie sich kennengelernt. Bei mir lernte Warhol auch Jackie Kennedy kenne. Aber für mich war das nicht so wichtig. Ich wollte nicht in ihre Welt kommen, sie kamen in meine. Warhol hat schon bei mir Filme geschaut, als ich ihn gar nicht kannte. Generell bin ich so beschäftigt, dass ich kein Interesse daran habe, Leute kennen zu lernen.

Wer waren für Sie wichtigsten Filmemacher dieser Zeit?

Oh, es gibt ein Duzend, dasviel dazu beigetragen hat, das Kino zu verändern. Natürlich ist Stan Brakhage einer. Er entwickelte neue Techniken und Formen, brachte zum Beispiel den abstrakten Expressionismus ins Kino. Und Andy Warhol, weil er Dinge wie die Dehnung der Zeit aus der Musik in den Film brachte. Dann haben wir Kenneth Anger, Paul Sharits, der mit einzelnen, farbigen Rahmen arbeitete. Wir haben Harry Smith und Jack Smith, der ein erotisches Element in den Film brachte. Das tat Kenneth Anger auch, aber Jack Smith forcierte es mehr. Anger ist eine sehr poetische, sensible Person, Jack Smith setzte dagegen mehr Ironie und Humor und eine Spur von Grausamkeit ein. „Flaming Creatures“ hat eine extreme Ironie, die die Leute verwirrte. Einige hielten es für fast pornografisch. Ich wurde damals verhaftet, weil ich den Film zeigte.

Wenn wir vierzig Jahre später darauf schauen, dann ist es ein sehr poetischer Film. Denn das Kino ist heute sehr weit in Richtung offener Pornografie gegangen, ohne Privatsphäre, keine Scham mehr. 1961 gab es noch diese Grenze, die man nicht überschritten hat, die gibt es heute nicht mehr. Dadurch verlieren wir sehr viel. Genauso durch die Übertreibung von Aktion und Gewalt – wir verlieren den Blick für die kleinen Details.

Inzwischen werden experimentelle Filme vor allem in Ausstellungen wie beispielsweise der Documenta und gezeigt…

… aber wer schaut sich solche Video-Installationen von Anfang bis Ende an? Die Leute bleiben zehn, zwanzig Sekunden und bekommen höchstens kleine Eindrücke…

… aber die Zunahme von Film in Ausstellungen ist doch ein interessantes Phänomen.

Ich glaube, dass da etwas nicht stimmt. Es sollte meinetwegen Museen nur für Video-Installationen geben, damit sie nicht nur in bestimmten Ausstellungen zu sehen sind. Aber es sollte auch Museen nur für Malerei, Zeichnungen und Skulpturen geben. Diese Vermischung schadet den Arbeiten. Es gibt kaum noch Malerei zu sehen – man könnte denken, es male keiner mehr. Aber das stimmt nicht, es interessiert nur niemanden, alle wollen nur Installationen.

Ich verstehe eigentlich nicht, warum sie meinen Film auf der Documenta zeigen wollten. Er gehört nicht in eine solche Kunstsituation. Ich finde das merkwürdig. An einem gewissen Punkt wird alles nur noch ein großer Mischmasch und schwächt jede einzelne Kunst. Ich glaube, wir haben einen Punkt erreicht, an dem man wieder stärker fokussieren sollte.

Und woran arbeiten Sie zurzeit? Wahrscheinlich an allem gleichzeitig: Archiv, Tagebücher, Gedichte…

Ja, ich reite viele Pferde und muss aufpassen, dass ich nicht runterfalle. Aber meine eigenen Filme schneide ich spät am Abend, wenn ich nichts anderes mehr tun kann. Meine Tage gebe ich für andere, ich bin jeden Tag im Anthology Film Archive, ich mache noch immer das Programm, organisiere das Geld.

Gerade arbeite ich auch an meinen Videos. Seit 87 habe ich parallel zu meinen Filmaufnahmen auch Video aufgenommen. Ich habe inzwischen vielleicht acht- oder neunhundert Stunden Material und ich beginne langsam es zu reduzieren. Es wird etwa zwei Jahre dauern, mein Videotagebuch herauszubringen, das mindestens 24 Stunden lang sein wird. Man kann ja auch ein Buch nicht auf einmal durchlesen. Es hat einen ganz anderen Stil als das, was ich auf Film mache – ich interessiere mich dabei nicht so sehr für Farben und Licht, sondern nur für Menschen, ihre Gesichter, ihre Beziehungen.

Haben Sie ihre Kamera jetzt dabei?

Ja. Hier in meiner Jackentasche.