Neue Engagierte Kunst

by Florian Malzacher

In: Theater Heute. Jahrbuch (2015). 88-94.


Was ist das größere Verbrechen: in eine Bank einzubrechen oder eine Bank zu gründen? Was ist der größere Skandal: Flüchtlingsleichen nach Deutschland zu karren und zu beerdigen oder diese Toten verschuldet zu haben? Darf man ein Gespräch über Bäume führen, wenn die Welt sich von Krise zu Krise hangelt oder muss man all sein künstlerisches Können in den politischen Kampf einbringen? Wer ist besser geeignet, entfremdete Verkäuferinnenarbeit zu zeigen und zu analysieren – die Verkäuferinnen selbst oder Regisseure/Dramaturgen/ Schauspieler? Wer spricht für wen, wer darf wen repräsentieren, mit welchem Recht – und wer bleibt unrepräsentiert?

Was vor rund fünfzehn Jahren als Trend, das «echte Leben» auf die Bühne zu holen, begann, hat sich vor dem Hintergrund tiefgreifender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Krisen vielfach in das Bedürfnis verwandelt, sich selbst und oft sehr konkret mit seiner Kunst in das «echte Leben» einzumischen. Nicht die Bühnenbretter bedeuten mehr die Welt, sondern draußen gilt es, mitzumischen. Der «social turn» vor allem in den Bildenden Künsten ist – wie die Kunsthistorikerin Claire Bishop analysiert hat – auch eine Wende hin zum Performativen: Oft sind es die Mittel und Strategien des Theaters, die genutzt werden, wenn Künstler politische Bewegungen gründen, die Grenzen zum Aktivismus verwischen, neue Gemeinschaften schaffen, konkrete Veränderung suchen. Doch ausgerechnet das Theater selbst – das Medium, das Hannah Arendt als politische Kunst par excellence bezeichnet, weil sein einziger Gegenstand der Mensch im Verhältnis zu anderen ist – tut sich überraschend schwer damit, seine eigenen Repräsentationsmechanismen hinter sich zu lassen oder zumindest radikal zu hinterfragen. Zwar sind kollaborative Praktiken und spielerische Publikumsbeteiligung en vogue, doch kaum je werden die ureigenen Qualitäten des Mediums konsequent genutzt: Eine temporäre Gemeinschaft zu bilden, Verfahrensweisen von Gesellschaft zu erproben und ihre eigenen Grundbedingungen zu hinterfragen, zu verhandeln oder gar neu zu definieren. Einen agonistischen Raum zu bilden, in dem konträre Meinungen ausagiert werden können, ohne sie in billigem Konsens aufzulösen.

Neue Kriterien 

Doch der Trend, reale soziale Situationen zu erzeugen, bringt andere Anforderungen als geschlossene Kunsträume mit sich. Nicht nur werden ästhetische Kriterien verschoben, vor allem tauchen Fragen auf, mit denen auch soziale Initiativen konfrontiert sind: In wie weit sind die beteiligten Personen selbstbestimmt? Wie lang muss man einer eingegangenen Verpflichtung folgen? Wer profitiert am meisten? Ist es nachhaltig? Solche Fragen haben nicht immer die gleichen Antworten, je nachdem, ob man sie aus der Perspektive der Kunst oder des Aktivismus oder gar der Sozialarbeit betrachtet. Denn: Partizipative Kunst ist eine Kunst «in which people constitute the central artistic medium and material, in the manner of theater and performance», wie es Claire Bishop formuliert. Damit ist eine mögliche Trennlinie zwischen sozial engagierter Kunst und Aktivismus markiert: Auch wenn Aktivismus ebenfalls mit Menschen umgeht, sie organisiert, sie benutzt, vielleicht sogar manipuliert, würde Bishops Definition den meisten Aktivisten als zynisch gelten. Und selbst wenn viele Künstler eine solche Formulierung ebenfalls vermeiden würden: Sozial engagierte Kunst muss eben nicht im Konsens mit dem involvierten Menschen geschehen. Sie muss nicht einmal eine positive Erfahrung für sie sein. Sie kann auch auf direkte Konfrontation zielen, mit Misskommunikation oder gar Missbrauch spielen.

Die Arbeiten des spanischen Künstlers Santiago Sierra beispielsweise sind bekannt für die verstörende Radikalität, mit der er Menschen als Material benutzt, ihnen ein Mindestgehalt zahlt für offenkundig bedeutungslose oder erniedrigende Aktionen, beispielsweise wenn er sechs junge Kubaner anheuert, sich eine Linie auf ihren Rücken tätowieren zu lassen (250 cm Line Tattooed on 6 Paid People, 1999). Indem er Ungerechtigkeiten, finanzielle Abhängigkeiten, Machtmissbrauch (meist westlicher) Gesellschaften im Rahmen eines Kunstwerks reproduziert, wiederholt Sierra die Mechanismen, die er verachtet, um sie zu kritisieren. Und macht uns zum Teil des Dilemmas. Der niederländische Künstler Renzo Martens verwendet in seinem Film Enjoy Poverty (2008) eine vergleichbare Strategie, wenn er kongolesische Fotografen davon überzeugt, mitzuverdienen an den schlechten Nachrichten, die ihr Land westlichen Medien liefert. Statt Fotos von Hochzeiten oder anderen Feiern zu machen, fotografieren sie nun den Krieg, oder, konkreter “raped women, corpses, and, let’s add, malnourished children”. Die Argumentation ist kristallklar und rational – und zutiefst verstörend, weil sie direkt auf unsere eigene Hypokrisie zeigt.

Auch die Arbeiten des Berliner Zentrums für Politische Schönheit lassen sich in dieser Reihe sehen: 2012 setzten sie im Rahmen der Berlin Biennale 25.000 Euro Belohnung aus für jede Information, die zu einer Verurteilung eines der Besitzer des Rüstungsunternehmens Krauss-Maffei Wegmann führen würde. Da der Waffenhandel selbst – das tatsächliche moralische Verbrechen – nicht strafbar ist, sollte nach jedwedem anderen justiziablen Vergehen gesucht werden. Die eigentliche Anklage aber waren die Plakate und die Webseite mit den Namen und Gesichtern der Waffenfirma-Eigentümer in Western-Steckbrief-Manier. Ein legitimes Anliegen – aber legitime Mittel? Diese künstlerisch produktive Ambivalenz steigerte das ZPS, als sie die Gedenkkreuze für Berliner Mauertote klauten, um sie vermeintlich an die EU-Außengrenze zu bringen – zu den Mauertoten der Gegenwart. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte das Kriterien-Dilemma als die Künstleraktivisten die Leiche einer syrischen Geflüchteten aus einer Kühlkammer bargen und in Berlin beisetzten – mit all der theatralen Unklarheit des Als-ob.