Es gibt ein Wort für Leute wie Euch, und dieses Wort heißt Publikum.

Forced Entertainment
by Florian Malzacher

In: Not Even a Game Anymore. Das Theater von Forced Entertainment. Eds. Judith Helmer & Florian Malzacher. Berlin: Alexander Verlag, 2004. 127-141.


Zuschauer kommen ins Theater, vielleicht um etwas zu sehen, das sie anstößig fänden, wenn sie es im wirklichen Leben sehen würden … Vielleicht seid Ihr heute Abend hierher gekommen, weil Ihr etwas sehen wollt, das Ihr nur privat bei Euch zuhause getan habt, oder vielleicht etwas, von dem Ihr wünscht, dass Ihr es privat bei Euch zuhause getan hättet, oder etwas, von dem Ihr träumt, dass Ihr es privat bei Euch zuhause tun würdet. Ein Publikum will in der Dunkelheit sitzen und sehen, wie andere Leute es tun. Nun, wenn Ihr den Eintritt bezahlt habt – dann viel Glück!

Von dieser Seite des Teleskops aus sehen die Dinge jedoch etwas anders aus – Ihr seht alle sehr klein aus und sehr weit weg, und Ihr seid ziemlich viele. Es ist wichtig, daran zu denken, dass Ihr mehr seid als wir. Wenn es also zum Kampf kommt, werdet Ihr ohne Zweifel gewinnen.

Dass die Zuschauer in der Überzahl sind, das sollten sie – wie Richard Lowdon im Eröffnungsmonolog von Showtime nervös und mit einer tickenden Bombe um den Bauch bittet – nicht vergessen. Denn es bedeutet: Sie haben Verantwortung für das, was auf der Bühne geschieht, sie könnten es stoppen wenn nötig, sie könnten es aber auch unachtsam zertrampeln. Allein die banale Tatsache, dass im Theater, anders als in den anderen Künsten, die Produktion unabdinglich in der selben Raumzeit stattfindet wie die Rezeption, bringt das Publikum in eine heikle Lage: mitverantwortlicher Teil eines Ganzen zu sein.

Es ist dieses Phänomen, das Forced Entertainment spätestens seit Anfang der Neunzigerjahre besonders interessiert und das seither in den meisten ihrer Arbeiten zumindest beiläufig thematisiert wird: Sterben wird vorgeführt, Menschen werden gedrängt, Privatestes zu offenbaren, verzweifelt suchen sie nach einem Bisschen Würde, nach etwas Glück, stehen nackt vor aller Augen – immer sind wir anwesend, als Zuschauer, als Zeugen, als Voyeure.

Die Achsenverschiebung von einer dramen- oder bühneninternen zu einer intratheatralen Kommunikation mit dem Publikum eint seit rund hundert Jahren Theaterneuerer aller Couleur. Sie zielt auf das Politische. Denn sie macht sichtbar, dass – egal ob die Polis sich im Athener Theater traf, ob der barocke König zum Fluchtpunkt der Inszenierung wurde oder ob sich das erwachende Bürgertum Nationaltheater baute – die Theatersituation immer auch Spiegel gesellschaftlicher Modelle war.

Seither sind viele Gefechte um (oder für) den Zuschauer ausgetragen worden; er wurde angeschrieen, beschimpft, einbezogen, saß selbst auf der Bühne oder wurde auf der Straße vom Theater überrascht. Keinerlei Garantie, dass jener theatrale Pakt noch eingehalten würde, der den Darsteller vom Publikum trennt. Auch wenn die Sicherheitslage des Zuschauers sich inzwischen wieder entspannt hat – die Rolle des Beobachters ist bis in die Stadttheater hinein aufgewertet wie nie zuvor. Dabei geht es längst meist weniger um die Überwindung der Rampe als Grenze, als vielmehr – durch die Verschiebung der Utopie vom konkret Räumlichen ins abstrakt Semiotische – um die Ernennung des Zuschauers zum „unumschränkten Herrscher über alle möglichen Semiosen“ (Erika Fischer-Lichte).

Nicht zum aktiven Handeln wird das Publikum im Theater aufgefordert, sondern zum aktiven Sehen und Denken. Wo Brecht vom ‚aktiven Zuschauer’ als Gegenstück zum aristotelischen ‚Furcht und Mitleid’-Konzept noch erwartete, dass er das Gezeigte konkret als Modell auf die Gesellschaft übertragen sollte, soll dieser Zuschauer nun Sätze und Bilder mit sich selbst in Verbindung setzen, sie verknüpfen, ergänzen zu seinen eigenen Geschichten statt einer geschlossenen, linearen Narration zu folgen. Solchermaßen aktiviert und zum Herrscher ermächtigt, trägt er eine merkwürdige Verantwortung für das, was er sieht:

Du bist für all das, was du siehst, ebenso verantwortlich, wie für das, was du tust. Das Problem bestand darin, dass man nicht immer wusste, was man sah, erst später, vielleicht Jahre später; es blieb einfach in deinen Augen gespeichert.

Tim Etchells selbst stellt in seinem Essayband Certain Framents dieses Zitat aus den Aufzeichnungen des Vietnam-Kriegsberichterstatters Michael Herr in den Zusammenhang mit der Arbeit Forced Entertainments: „Die haben die Idee dahinter immer gemocht – eine Verantwortung für Ereignisse, die man nur gesehen hat“. Es ist die Verantwortung desjenigen, der zum Zeugen eines Geschehens wird, eines Unfalls, eines Verbrechens, eines Unrechts – aber auch einer Liebesszene, einer Versöhnung oder einfach eines alltäglichen Vorganges. Es ist die Verantwortung des Sehens – und der Haltung, die gegenüber dem Gesehenen eingenommen wird.