Christine Wahl: Bernd, auch du bist – oder warst zumindest – politisch aktiv, namentlich als Mitinitiator der „Aufstehen“-Bewegung. Warum stellt sich das Verhältnis zwischen Kunst und unmittelbarem politischen Engagement für dich so anders dar als für Florian?
Bernd Stegemann: Ich weiß gar nicht, ob das so anders ist, ich habe es nur ganz anders gewichtet. Ich finde diese Trennung, die du, Florian, nochmal beschrieben hast, also „worum geht es“ und „wie wird es gemacht“, immer schon grundlegend falsch. Wir haben ja spätestens bei Brecht gelernt, dass das Verhältnis zwischen dem Inhalt und der Art, wie dieser Inhalt sinnlich anschaubar, nacherlebbar, fühlbar oder auch denkbar gemacht wird, der entscheidende ästhetische Vorgang im Theater ist. Und genau da hat Brecht einen fundamentalen Paradigmenwechsel eingeleitet: von dem durch Illusion oder Mitfühlung manipulierten Zuschauer zu einem staunenden, mitdenkenden, reflektierenden Zeitgenossen. Dieser große Paradigmenwechsel gilt meiner Meinung nach bis heute. Wenn wir ins Kino gehen, werden wir immer noch in eine Vor-Brechtsche Zuschauerperspektive gebracht, weil wir reingelutscht werden in dieses Leinwandgeschehen – Ausnahmen gibt es natürlich immer, aber das gilt im Großen und Ganzen für das Mainstream-Hollywood-Kino. Trotzdem können in solchen Filmen inhaltlich natürlich brisante soziale Missstände usw. Thema sein. Aber trotzdem werden sie in einer Form der Einvernahme verhandelt. Das häufigste politische Gefühl ist dann die Empörung und die ist bekanntlich die Politik der Dummen. Brechts Weg ist dialektischer. Seine Versuche bestehen darin, dass der Zuschauer nicht in das Thema, das verhandelt wird, hineinfällt, sondern dass er in eine Distanz dazu gerückt wird und sich plötzlich wundert, wieso das eigentlich so ist, wie es ist. In der Hoffnung, dass er mit diesem verwunderten Blick dann wiederum auf die Straße geht und dann genauso verwundert guckt und sagt: Wieso sind die Mietpreise so hoch? Wieso ist der oder jener so gemein? Wieso ist der Busfahrer immer so schlecht gelaunt? Das Ziel ist also, eine materialistische Art von Alltags-Analyse in Gang zu setzen. Wenn Kunst das erreicht und diesen Punkt bei einem Zuschauer erwischt, dass er im besten Fall eine Frage mit in die Realität nimmt, dann ist es genau das, worum es mir geht.
Florian Malzacher: Das ist vermutlich ein Punkt, den wir weiter schärfen müssen: Dass es nicht reicht, zur Reflexion und Kritik anzuregen. Es geht auch um das Verhältnis von Publikum und Bühne und darum, welche Rolle die Zuschauer:innen spielen – wie das Brecht ja auch schon gesagt hat: „Das Theater, wie wir es vorfinden, zeigt die Struktur der Gesellschaft (abgebildet auf der Bühne) nicht als beeinflussbar durch die Gesellschaft (im Zuschauerraum).“ Und es geht darum, wer repräsentiert wird – und von wem. Ich würde die Frage der Repräsentation auf dem Theater nicht von der der Repräsentation in der Gesellschaft trennen. Was bedeutet es, wenn ein weißer Schauspieler auf der Bühne einen Schwarzen spielt? Auch das hat ja Brecht schon angemerkt, als er sich in seiner Stanislawski-Kritik darüber lustig gemacht hat, wenn wohlgenährte Schauspieler:innen ausgemergelte Arbeiter:innen spielen. Und die Rolle des Publikums wird in den Lehrstücken radikalisiert. Auch wenn er das selbst dann nicht konsequent vollzogen hat – da landen wir dann eher bei Augusto Boal, der die Bühnenräume verlassen und das Publikum zu Mitspielern gemacht hat. Es gibt ja den mitunter Brecht oder Marx zugeschriebenen, aber eher von Majakowski stammenden Spruch, dass Kunst kein Spiegel ist, in dem sich die Welt, die Gesellschaft spiegelt, sondern ein Hammer, um sie zu verändern. Die Frage ist: Lässt sich die Welt durch rein kritisches Beobachten verändern oder geht es eben darum, tatsächlich – in welcher Form auch immer – mit Kunst direkt zu intervenieren bzw. umgekehrt die Realität in das Theater intervenieren zu lassen.
Christine Wahl: Ich sehe: Du möchtest auf diese Frage direkt reagieren, Bernd!
Bernd Stegemann: Jetzt wird es allerdings ein wenig komplizierter. Wenn man sagt, Kunst ist der Hammer, um die Welt zu verändern, klingt das natürlich ziemlich robust, aber gleichzeitig muss man sagen, dass dem, der mit dem Hammer auf die Welt guckt, alles zum Nagel wird. Es gibt Probleme, die lassen sich nicht mit dem Hammer lösen. Die Datencloud von Google kannst du nicht einfach mit dem Hammer zerstören. Auch den Finanzmarktkapitalismus kannst du nicht mit dem Hammer zertrümmern. Im Prinzip sind alle großen Hegemonialsysteme momentan so verfasst, dass sie nicht mit einem Hammer zu erreichen sind. Insofern muss Kunst noch über andere Handwerksmittel verfügen als diesen Hammer, um überhaupt erst mal auf die Höhe der Komplexität zu kommen, damit überhaupt wieder begreifbar wird, was da gerade in der Welt um sie herum für Machttechniken praktiziert und produziert werden. Denn diese Techniken haben eine große Virtuosität entwickelt, sich selber unsichtbar zu machen oder harmlos zu wirken. Also dieser alte, klassische Punkt der Aufklärung, den „ideologischen Schleier“ ein wenig zu lüften und zu sagen: So Freunde, glaubt doch bitte nicht immer alles, was das Unternehmen X oder die Politikerin Y über sich selber verbreiten, sondern schaut doch mal ein bisschen anders darauf. Das allein ist schon eine wesentliche Aufgabe, die das Theater oder jede Art von öffentlich kritischer Instanz leisten sollte.
Christine Wahl: Wobei es ja auch beim interventionistischen Theater „entschleiernde“ Praktiken gibt, exemplarisch etwa bei Künstlerkollektiven wie den Yes Men, die stark mit Verfremdungseffekten arbeiten.
Bernd Stegemann: Keine Frage, das ist Cultural Hacking. Das ist ja auch das, was das Zentrum für politische Schönheit schon oft wirkungsvoll gemacht hat. Da wird die Welt zur Bühne, da werden bestimmte kulturelle Erscheinungen in der Welt quasi uminszeniert, sodass man plötzlich auf die Rückseite schauen kann.
Christine Wahl: Genau. Das sind Aktionen mit einem starken Aufklärungsimpetus und -effekt.
Bernd Stegemann: Da wollte ich gar nicht widersprechen.
Florian Malzacher: Ich stelle den Wert kritischen Denkens ja nun auch nicht in Abrede. Aber ich glaube, Theater und Kunst haben einfach auch noch andere Möglichkeiten. Intervention ist eine davon – und das bedeutet ja nicht, dass jedes Theater interventionistisch oder aktivistisch sein muss. Mir ist noch wichtiger, dass das Theater Räume schaffen kann, in denen Wirklichkeit auf eine sehr spezifische Weise verhandelt werden kann. Das Erzeugen temporärer Gemeinschaften im Theater hat ein politisches Potential. Hier kann Gesellschaft nicht nur analysiert, sondern auch ausprobiert werden – real und fiktional zugleich, tatsächlich und symbolisch zugleich. Man ist Teil von etwas und kann sich zugleich von außen beobachten. Das ist die paradoxe Maschine des Theaters. Ich bin überzeugt davon, dass Theater mehr kann als ihm bisweilen zugetraut wird. Und vielleicht gerade, weil es im Kern altmodisch ist: Es ist langsam, anthropozentrisch, permanent kompromiss- und fehlerbehaftet. Es gibt für mich eine Nähe zwischen Bewegungen wie Occupy und Theaterversammlungen, nämlich in der Frage, wie man sich versammelt, wie man sich anders versammeln könnte. Ich glaube nach wie vor, dass das Theater da ein wichtiges, auch politisches Potential hat. Das ist nicht der Hammer, mit dem man mal schnell die Welt ummeißelt. Aber Theater sollte durchaus den Anspruch an sich selbst stellen, aktiver Teil der Veränderung der Gesellschaft zu sein und nicht nur zu analysieren. Darauf würde ich, durchaus im Sinne Brechts, beharren.
Christine Wahl: Apropos Weltveränderung. Brecht Prämisse von der Veränderbarkeit der Welt ist ja spätestens nach Francis Fukuyamas Befund vom „Ende der Geschichte“ etwas aus der Mode geraten – und mit ihr die Konzeption eines interventionistischen oder im Brecht`schen Sinne Bewusstsein schärfenden Theaters. Für viele steht diese Prämisse heute, angesichts der aktuellen sozialen, politischen und ökologischen Katastrophenszenarien, eher umso stärker in Zweifel.
Bernd Stegemann: Ich war das letzte Mal, als Greta Thunberg in Berlin war, tatsächlich bei Fridays for Future mit dabei. Und ich fand die beste künstlerische Aktion des letzten Jahres ihre Rede „How dare you“. Das ist für mich interventionistisches Theater gewesen. Sei es Begabung, sei es Intelligenz: Sie hat gewusst, dass sie in diesen 90 Sekunden, wo die gesamte Welt auf sie schaut, Gefühl bieten und produzieren muss. In der antiken Rhetorik spricht man von Aposiopese, wenn in der Rede, dem geschriebenen Manuskript, schon der Gefühlsausbruch hineingeschrieben ist. Ich habe mir das ein paarmal angeguckt. Ich fand das grandios, sie macht das sehr gut. Auch wenn’s ihr einfach so passiert ist, ist das für die Wirkung egal, denn wir sprechen über Theater, also die Wirkung ist das entscheidende. Und ihre Worte haben eine so durchschlagende Wirkung gehabt, dass wirklich alle darüber gesprochen haben und es alle erreicht hat, im Positiven wie auch durch hochgradig ablehnende Reaktionen. Es hat ja bei vielen Leuten zu unfassbaren Aggressionsschüben geführt, die aber trotzdem im Sinne der Sache sind, nämlich der Steigerung der Aufmerksamkeit für das Thema Klimawandel. Ich fand das einen grandiosen Moment von Theater, der dort passiert ist. Wo ich dir, Florian, völlig zustimmen würde, ist, dass das Theater eine wahnsinnige Kraft hat, innerhalb von kürzester Zeit ganz viele Vorzeichenparadigmen, Gefühlseinstellungen usw. aufzurühren, zu irritieren und sogar zu verändern – also bei mir zumindest hat es etwas verändert. Und ich bin dadurch ins Nachdenken gekommen, was die Fragen des Anthropozän sind. Ich hätte bis vor einem Dreivierteljahr noch gesagt, der Hauptfeind ist natürlich, wie ich es eben schon skizziert habe, diese sich immer weiter atomisierende und die Menschen immer weiter gegeneinander aufbringende falsche ökonomische Struktur der Welt. Ich glaube immer noch, dass das eine gigantische Ursache für viele Probleme ist, die wir haben. Aber ich glaube auch, dass noch ein zweites, großes Problem dazugekommen ist. Und das ist das Anthropozän, also ein neuer Paradigmenwechsel, der gerade stattfindet. Wir kennen alle die drei berühmten narzisstischen Kränkungen durch die das Cartesianische Subjekt entstanden ist: wir sind nicht mehr im Zentrum des Universums, wir sind irgendwie mit dem Affen verwandt und wir sind nur ein Untermieter im eigenen Oberstübchen, sprich: Wir sind nicht Herr unser eigenen Triebe und geistigen Ressourcen. Diese drei Paradigmenwechsel – Kopernikus, Darwin, Freud – haben das berühmte Subjekt der Selbststeigerung, Selbstheilung, Selbstreflexion, Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit hervorgebracht. Auf diesem ganz neuen Verhältnis zu uns selber beruht das berühmte europäische, abendländische Menschenbild, und das ist inzwischen gigantisch erfolgreich. Es leben fast 8 Milliarden unserer Spezies, Menschenaffen gibt es kaum noch 50.000. Wir haben 68 Milliarden Hühner zu unserer Ernährung qualvoll eingesperrt, die Singvögel sterben aus usw. Es ist eine in jeder Hinsicht extreme Erfolgsgeschichte und eine extreme Horrorgeschichte. Und jetzt kommt noch eine weitere, meiner Meinung nach vierte narzisstische Kränkung hinzu, nämlich das Anthropozän. Da heißt es plötzlich: Diese Erfolgsgeschichte gräbt uns Menschen gerade das Wasser ab. Oder umgekehrt: Die lässt uns irgendwann ersticken, ertrinken, durch Hitze und Epidemien zugrundegehen. Erst haben wir die Umwelt ruiniert und jetzt ruinieren wir die Lebensgrundlagen für alle. Das ist ein globaler Wendepunkt, weil er alle Grundeinstellungen dessen, was wir unter Subjekt verstehen, umwirft. Das Subjekt wird eben nicht, wie dieses berühmte „Gesicht im Sand“ bei Foucault, als ein Konzept von Menschsein durch eine schöne Meereswelle einst weggeschwemmt, sondern es wird auf eine ganz konkrete Art zerstört, nämlich nicht als Konzept, sondern als Gattung. Das ist der große Paradigmenwechsel. Wir haben bis dato in der Moderne und Postmoderne vom Menschen als Konzept geredet, aber was momentan auf der Schlachtbank liegt, ist nicht mehr das Konzept des Subjektes, sondern diese Konzeption von Subjekt führt vielmehr dazu, dass die tatsächliche biologische Bedingung des Menschseins, also unsere Gattung, zerstört wird. Das ist etwas zutiefst verstörendes, so dass man gar nicht früh genug damit anfangen kann, sich mit dieser Bedrohungslage zu konfrontieren. Ich empfinde diese vierte Kränkung natürlich auch als eine Beleidigung, sie ist eine regelrechte Unverschämtheit. Als wäre das Leben nicht sowieso schwierig genug, heißt es jetzt – neben den 1000 anderen Problemen, die wir als Menschen in dieser komplizierten Welt haben – auch noch, dass das ganze Unternehmen Menschheit sowieso falsch ist. Auch ich finde das sehr schwer auszuhalten. Und natürlich führt das bei vielen Menschen zu Abwehr, auch bei mir. Man bemerkt, dass sich dauernd Abwehrstrategien bilden gegen diesen Schrecken und die fundamentale Infragestellung, die damit einhergeht. Und genau da treibt mich in den letzten Monaten die Frage um: Was kann Theaterkunst hier ausrichten?
Christine Wahl: Gibt es darauf denn schon eine Antwort?
Bernd Stegemann: Ich weiß es nicht. Darüber sollten wir alle zusammen nachdenken.
Christine Wahl: Lässt sich Brecht überhaupt ins Spiel bringen, wenn es ums Anthropozän und um das Überleben der Gattung Mensch geht?
Bernd Stegemann: Dem Anthropozän liegt ein großer Anteil materialistischer Problematik zugrunde, weil es eben die Lebensbedingungen betrifft. Aber das Problem ist, dass dieses materialistische Fundament des Anthropozäns nicht nur über soziale Ungleichheit funktioniert. Vor dem Klima sind wir alle gleich, auch wenn es wieder Gewinner und Verlierer geben wird, in den gemäßigten Breiten und in den nicht so gemäßigten. Die Verbindung, die ich in meinem eigenen Denken gerade näher zu erfassen versuche, ist die Verbindung zwischen dem Cartesianischen Subjekt und dem Wachstumszwang des Kapitalismus. Ein unendliches Wachstum kann in einer endlichen Welt logischerweise nicht funktionieren. Dennoch können wir uns als die anspruchsvoll selbstbewussten Menschen, die wir sind, fatalerweise keine Ökonomie vorstellen, die nicht auf Wachstum ausgerichtet ist.
Florian Malzacher: Ich würde gerne wieder etwas konkreter werden. Es geht jetzt ja um sehr große Bögen. Die Klimakatastrophe überschattet alles, und die immense Dynamik bringt uns teilweise in eine rein reaktive Situation – die Gefahr ist, dass die Wurzeln des Übels dabei nicht gepackt werden. Wenn es um Erderwärmung geht oder um die Veränderungen der Welt durch Künstliche Intelligenz etc. wird es tatsächlich schwierig für das Theater, das auf einen menschlichen Maßstab runterzubrechen – und das ist die Voraussetzung fürs Theater, aber auch seine besondere Fähigkeit. Anders gesagt: Das Theater kann sicher nicht viel tun, um die Klimakatastrophe zu beenden, aber es kann darüber nachdenken, wie man gemeinsam handelt: Im Kleinen und ganz konkret – da gibt es dann auch Schnittstellen zwischen Kunst und Aktivismus.
Um ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis zu bringen: Zusammen mit dem niederländischen Künstler Jonas Staal habe ich letztes Jahr das Projekt „Training for the Future“ ins Leben gerufen, bei dem ein Kunstraum – in diesem Fall die Bochumer Jahrhunderthalle – in ein Trainingscamp verwandelt wurde. Es ging um die Frage, was wir konkret, mit dem Blick auf die Zukunft, gemeinsam trainieren können. Die Vorstellung, dass wir die Welt nicht verändern können, ist ja in gewisser Weise nur eine weitere TINA-Modifikation, eine „there is no alternative“-Fortsetzung – diesmal halt unter dem Vorzeichen Klimakatastrophe statt Neoliberalismus. Unsere Frage war, wie man Zugriff auf eigenes Handeln bekommen kann. Dazu haben wir Künstler:innen und Aktivist:innen aus aller Welt eingeladen, um Trainings zu entwickeln. Wie schon gesagt: Auch hier ist für mich das Potential des Theaters, dass es Räume schafft, die real und fiktional, konkret und symbolisch zugleich sind. Es ist ein Reflexions- und ein Handlungsraum gleichzeitig, in dem man drinnen steckt und sich dennoch von außen beobachten kann. Eine Art eingebauter V-Effekt. Das ist bei Projekten wie „Training for the Future“ auch der Unterschied zum Aktivismus – wo es bei den Versammlungen, den Assemblies, oft einen starken Glauben an die eigene Authentizität gibt. Dazu hat das Theater ja ein komplexeres Verhältnis, weil es eben authentisch und nicht authentisch im selben Augenblick ist. Für viele Aktivist:innen ist „Ihr macht ja aus allem Theater“ ein Vorwurf, weil sie glauben, es würde ihr Handeln in den Raum der Fiktion rücken – aber das ist eben nur halb richtig.
Christine Wahl: Bernd, du forderst mehr Realismus im Theater. Ist der Klimakatastrophe mit dem Realismus beizukommen?
Bernd Stegemann: Ich glaube schon, dass es nicht nur um die Individuen geht, sondern auch dieses merkwürdige Kollektiv, das man im Theater temporär bildet und das modellhaft so etwas wie eine Minigesellschaft sein kann. Das wäre zumindest die Hoffnung. Aber was die Frage des Bewegens, des Hammers und des Was-kann-man-tun angeht: Auch das ist eine Frage des Maßstabs. Wie soll man messen, ob sich die Welt verändert? Wenn sich auf einen Schlag die ganze Welt verändern soll, dann ist die Latte natürlich ein bisschen hoch gehängt. Am Beispiel des österreichischen Kunst-Aktivismus-Kollektivs Wochenklausur, das ja auch im Rahmen der Brecht-Tage Thema ist, ließe sich antworten, dass es darum geht, im Konkreten, im Kleinen, Dinge zu verändern.
Das, was Wochenklausur macht, hat so tatsächlich einen messbaren Erfolg. Die Gruppe geht üblicherweise mit einem großen Pragmatismus an einzelne Probleme heran und hat einen Track-Record extrem erfolgreicher Interventionen. Ich sage nicht, dass dieses Modell das allgemeingültige ist, aber es zeigt, dass es verschiedene Größenordnung gibt, in denen man agieren kann. Oder nehmen wir Augusto Boal, der sich in mancherlei Hinsicht zu Recht als Brechtnachfolger sah. Sein „Theater der Unterdrückten“ und das „Invisible Theatre“ haben konkret messbare Wirkungen in bestimmten Communities gehabt, vor allem in Südamerika, aber auch in Afrika, bis heute. Das wäre ein weiteres Beispiel, an dem man tatsächlich einen direkten Erfolg messen könnte. Vor allem aber ist für mich Theater ein Labor, in dem man in einem kleineren Maßstab gemeinsam Dinge entwickeln und ausprobieren kann, die dann bestenfalls weitergetragen werden.
Publikum: Mir fallen als konkretes Beispiel die großen Demonstrationen zum Thema Mietenwahnsinn ein, die gerade stattfinden. Es gibt auf diesen Demonstrationen Performances, die ich auch als Theater bezeichnen würde, die dann dahin weiterführen, dass mehr Publikum geschaffen wird, das sich mehr engagiert, mehr interessiert, so dass dadurch auch bestimmte Veränderungen in die Wege geleitet werden. Und das ist ja in der letzten Zeit auch tatsächlich geschehen. Also würde in diesem Bereich auch wirklich sagen, dass das Theater da eine große Chance hat, weil extrem deutlich wird, ähnlich wie beim Klimawandel, dass sich etwas ändern muss. Und da sich in dem Bereich Umweltzerstörung, Klimawandel, und aber auch Mietenproblem das Bewusstsein extrem gesteigert hat, besteht gerade auch für das Theater, beispielsweise über Performances oder aber über größer angelegte Theateraktionen, die Chance, da auch etwas zu bewirken.
Bernd Stegemann: Ich würde das trotzdem unterscheiden. Es sind natürlich theatrale Mittel, die auf solchen Demonstrationen verwendet werden oder auch performative, also bunte Kostüme, Musik, Gespieltes, Getanztes, Gesungenes usw. Das sind alles Aufmerksamkeit stiftende Mittel, Identität stiftende Mittel, Gemeinsamkeit herstellende Mittel, die natürlich alle zum Basisvokabular des Theaters gehören. Aber trotzdem würde ich sagen – zumal wir ja aus der Warte der Theaterkunst sprechen –, dass die Kunst des Theaters etwas anderes ist. Gerade auch der abgeschlossener Raum ist dafür von Bedeutung. Auch dieses Gespräch findet ja im geschlossenen Raum statt. Wenn wir dieselbe Veranstaltung draußen, auf der Straße machen würden, wäre es eine ganz andere Situation. Wir würden andere Dinge besprechen. Bestimmte Dinge könnten auch nicht besprochen werden, weil sie die Ruhe und die gemeinsame Verabredung voraussetzen, dass beispielsweise immer nur einer redet und nicht alle durcheinander sprechen. Das sind ganz viele Techniken, die wir brauchen, um eine bestimmte Komplexität der Kommunikation überhaupt herstellen zu können. Und die braucht auch das Theater, etwa schon in der Antike das Ritual, dass man sich nur zu den Dionysien im Dionysos-Theater vereint und da als Stadtbevölkerung gemeinsam den ganzen Tag verbringt. Solche Verabredungen sind ein ganz entscheidender Punkt, damit überhaupt eine bestimmte Höhe der Reflexion entstehen kann. Ich möchte auch noch auf die vorausgegangen Bemerkung zur Messbarkeit der Theaterwirkung eingehen. So instrumentell kann man das natürlich nicht diskutieren.
Es gibt den berühmten Fall in der Theatergeschichte, eine Opernaufführungen Brüssel in deren Anschluss die Leute aus dem Theater rausmarschiert sind und die Belgische Revolution ausgelöst haben. Aber das ist natürlich ein einmaliges Ereignis, so unmittelbar ist die Wirkung von Theater nicht. Wenn man in die Theatergeschichte zurückschaut, so hat beispielsweise die griechische Tragödie, indem sie sinnlich und intellektuell vorgeführt hat, wie Menschen durch die Art, wie sie miteinander Konflikte führen, zwangsläufig eine tragische, nämlich ausweglose Mechanik in Gang setzen, das Denken des Abendlands extrem geprägt. Dadurch wurde ein Bewusstsein befördert, dass Menschen durch eigenes gutes Wollen trotzdem eine tragische und damit schlimme, meist tödliche Situation herstellen können. Dieser Gedanke und dieser weltanschaulich zentrale Punkt sind durch die antike Tragödie vor zweieinhalbtausend Jahren in die Welt gekommen. Was wir unter Politik und Gesellschaft verstehen, ist in diesen Gedanken aufgehoben und in die Welt gebracht worden und durch Theateraufführungen zu einem allgemeinen Bewusstsein gemacht worden – mit weitreichenden Konsequenzen. Für Shakespeare lässt es sich ähnlich formulieren. Selbst wenn längst nicht alle „Hamlet“ gesehen haben, gilt die Hamlet-Figur trotzdem bei den allermeisten Menschen, im Bildungsbürgertum zumindest, als ein intellektueller Paradefall, demgemäß man durch zu viele falsche Fragen mehr Probleme produzieren als man lösen kann. Das sind emotional-intellektuelle Komplexe, die das Theater überhaupt erst in die Welt gebracht hat, also erfunden und dann so kommuniziert hat, dass es bei den Menschen wirkungsvoll angekommen ist. In dieser Hinsicht hat das Theater eine sehr weitreichende Wirkung. Aber es lässt sich natürlich nicht sagen, da hat es die eine Inszenierung gegeben und dann ist das und das passiert.
Publikum: Vorhin fiel die Äußerung, dass die Klimakrise kein Problem wäre, das sofort auf Klassenpolitik verweist. Und das Gleiche ist passiert, als es um antirassistische Interventionen im Theater ging. Aber das sind natürlich beides Klassenfragen! Das ist eine künstliche Teilung, die immer wieder zwischen Identitätspolitik und Klassenpolitik aufgemacht wird. Das Problem ist doch genau das, was Sie im Falle von „Mittelreich“ beschrieben haben, dass schwarze Menschen am Theater keine festen Jobs haben, sondern quasi die hyperprekarisierten sind, die sich außerhalb der festen Ensembles finden. Genau das ist ja ein systemischer Zusammenhang. Und dass uns das als klassenferne Frage vorkommt, in dem Sinne, dass schwarze Menschen nur ihre eigene Identitätspolitik betreiben, ist ein gravierendes Missverständnis oder auch eine Spaltung, die der Kapitalismus in die Gesellschaft trägt. Anders gesagt: Es ist nicht so, dass es nicht klassenpolitisch ist bzw. auf Klassenpolitik reagiert. Sondern das Problem liegt bei den Menschen, die es nicht als Klassenpolitik wahrnehmen können. Das gleiche gilt für die Umweltbewegung oder Fridays for Future. Natürlich ist das ein Klassenproblem. Die Menschen – etwa die Käufer von vermeintlich sauberen SUVs – denken, sie könnten sich mit Geld gegen den Klimawandel schützen und gegen die Katastrophe einpanzern oder – eine andere, ähnliche Idee – ins All emigrieren. Also, diese Trennung zwischen Identitäts- und Umweltpolitik und Klassenfragen, da würde ich mich sehr gegen wehren. Dann kommt man, glaube ich, auch von dem Man-kann-da-nichts-machen-Denken weg. Weil dann nämlich sichtbar wird, dass ganz viele Menschen an ganz vielen Stellen die ganze Zeit kämpfen und was machen.
Florian Malzacher: Ja, ich halte den Widerspruch zwischen Identitätspolitik und Klassenbewusstsein bzw. Klassenpolitik für bewusst politisch konstruiert. Das eine gegen das andere auszuspielen ist nicht nur schäbig, sondern auch politisch unklug. Chantal Mouffe und Ernesto Laclau haben von der „chain of equivalence“ zwischen verschiedenen demokratischen Forderungen gesprochen. Die Forderungen der Arbeiterklasse – die ja heute auch nicht ganz einfach zu definieren ist – müssen zusammen mit anderen Forderungen artikuliert werden: Umwelt, Feminismus, Antirassimus, LGBTQ+ etc. Zu oft wurden andere Bedürfnisse als Nebenwidersprüche abgetan, die sich dann schon auflösen würden, wenn erst der Hauptwiderspruch beseitigt wäre. Aber natürlich ist es auch ein großer Fehler, Klassenpolitik zu ignorieren – zumal sie ja mit vielen anderen Problemen überlappt.
Publikum: Aber es ging, so habe ich den Einwurf verstanden, auch gar nicht um Haupt- und Nebenwiderspruch. Das ist die falsche Konstruktion. Es ging darum, Widersprüche in der Gesellschaft, die ökonomisch bedingt sind, die kulturell bedingt sind, ästhetisch bedingt sind, politisch bedingt sind – weil der Staat ist ja nicht unentschieden –, im Zusammenhang zu betrachten. Insofern müsste man – ich weiß nicht, inwiefern man das Modell als Modell nimmt – ein Rhizom, ein Netz von Widersprüchen sehen, wobei es nicht wichtige und unwichtigere gibt. Punktuell schon. Wenn die Arbeiter entlassen werden, dann ist der ökonomische Widerspruch wichtiger. Wenn Frauen oder Schwarze oder Transgender diskriminiert werden, dann ist dieser Widerspruch in dem Moment wichtiger. Man müsste versuchen, eine Verbindung, ein Netz von gesellschaftlichen Widersprüchen festzustellen, die sich aber eigentlich immer auf kapitalistische Produktionsweise beziehen. In diesem Sinne bin ich auch mit dem Systembegriff, wie er in der Diskussion verwendet wurde, nicht ganz einverstanden. Wenn Sie sagen, Produktionsweise und Produktionsverhältnisse, das ist ein alter Hut, das können wir vergessen, also die Marxsche Analyse, die materialistische, dann würde ich entgegnen, dass die Luhmannsche Analyse, das Systemische, mindestens genauso überholt ist. Also Brecht hat sehr schön gezeigt, dass bei einer Bank natürlich nicht der böse Bankdirektor das Entscheidende ist, sondern die Struktur der Bank, und dass dahinter bestimmte Interessen stehen und so weiter.
Bernd Stegemann: Brecht hat auch den wunderbaren Satz gesagt: der Kapitalist beutet nicht zu allen Zeiten mit denselben Mitteln aus. Das ist es, auf das ich abzielen wollte. Im Neoliberalismus finden ganz andere Arten von Renditewirtschaft statt als sie sich Brecht vorstellen konnte. Das Problem mit den Klassen- und den identitätspolitischen Konflikten und noch sehr vielen anderen Bruchlinien ist: Die sind ja entstanden – Nancy Fraser folgend – als eine bestimmte Strategie des Kapitals. Der Neoliberalismus hat es geschafft, dass die Konflikte sich gegenseitig das Leben schwer machen und damit das Kapital aus der Schusslinie genommen hat. Seitdem werden immer diese Konflikte gegeneinander ausgespielt und damit wird die Atomisierung der Menschen und der Solidargemeinschaften immer weiter betrieben. Und ich stimme völlig zu: Das große politische Ziel muss natürlich sein, sich nicht immer wieder davon ins Bockshorn jagen zu lassen und sich gegeneinander ausspielen zu lassen, sondern zu begreifen, dass es mehr Gemeinsamkeiten gibt als Widersprüche. Die Spaltung von eigentlich gemeinsamen Interessen ist in der politischen Wirklichkeit ein dauerndes Problem. Man kann das an den Klimaprotesten an zwei Beispielen wunderbar klarmachen. Selbstverständlich – erster Klassenwiderspruch – sind die Schüler, die bei Fridays for Future demonstrieren, überwiegend Gymnasiasten, die aus dem gehobenen Bürgertum kommen. Es sind nicht die Berufsschüler, es sind nicht die Hauptschüler, es sind nicht die Jugendlichen aus prekären Verhältnissen. Zweiter Klassenwiderspruch: Die Gelbwesten in Frankreich. Die Gelbwesten sind die, die gegen sogenannte ökologische Gesetze der Macron-Regierung, nämlich Erhöhung der Spritpreise aufgrund von ökologischen Gründen, massiv protestiert haben mit dem wunderbaren Satz: Ihr redet immer vom Ende der Welt; wir haben ein Problem, mit unseren Einkommen bis zum Ende des Monats zu kommen, und darum wollen wir das nicht. Das sind diese vielen Binnenwidersprüche, mit denen wir umgehen müssen.
Florian Malzacher: Dann, glaube ich, ist man letztlich doch wieder beim Haupt- und Nebenwiderspruch. Identitätspolitische Konzepte sind ja entstanden, weil bestimmte Leute genug davon hatten, dass man sagt: Eure Probleme werden sich früher oder später schon von alleine auflösen. Der „strategische Essentialismus“ ist ja nun mal eine Strategie, keine Glaubensrichtung. Es geht darum, spezifische Bedürfnisse, die sich nicht mal schnell verallgemeinern lassen, sichtbar zu machen. Ja, es gibt die Gefahr der Zersplitterung – aber das Problem ist, dass über Jahrzehnte, fast Jahrhunderte, mit dem Argument der Fragmentierung alle spezifischen Bedürfnisse auf eine ferne Zukunft verschoben wurden – und zwar in der Regel von denen, die davon nicht direkt betroffen waren. Und jetzt zu sagen, das Beharren darauf, dass die eigenen Rechte anerkannt werden, ist doch einfach nur ein Produkt des Neoliberalismus, ist perfide. Und dennoch, ja, die Fragmentierung ist ein Problem. Aber das kann man nur lösen, wenn man erstmal das Recht auf die einzelnen Kämpfe anerkennt und sie nicht einfach abtut.
Bernd Stegemann: Ich habe sie nicht abgetan. Ich habe nur gesagt, dass es sich wie immer dialektisch verhält: Es gibt die große Gefahr, das Bedingungsgefüge des Neoliberalismus zu übersehen. Denn Identitätspolitik findet nicht in einem herrschaftsfreien Raum statt, sondern innerhalb eines Herrschaftsdiskurses. Und innerhalb dessen gibt es ein Interesse des Kapitals an den Binnenkonflikten und darum eine Instrumentalisierung der identitätspolitischen Bruchlinien. Und darüber muss man dann schon reden.
Christine Wahl: Auch, wenn viele aufgeworfene Fragen in der Kürze der Zeit naturgemäß nicht ausdiskutiert werden konnten, ist zumindest abschließend nochmals deutlich geworden, wie stark verschiedene künstlerische Formen oder Strategien mit unterschiedlichen politischen Analysen und Gewichtungen ineinandergreifen. Wir müssen an dieser Stelle einen Schlusspunkt setzen: Ich danke Ihnen für die Diskussion!